Auf den Spuren eines Kshatriya 4 – Eine Reise in die Vergangenheit - in ein früheres Leben - Talakadu
- Anja
- vor 6 Tagen
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Aktualisiert: vor 5 Tagen
Talakadu – Stadt, die im Sand versank
Der Morgen dämmert durch den weißen Vorhang. Der Tag beginnt, wie der letzte aufgehört hat: Ein Lastwagen hupt, drei Tuktuks antworten, irgendwo bellt ein Hund, dazwischen kräht ein Hahn.
Kaffe, der erste Gedanke. Im Zimmer, ein kleiner, leicht zerkratzter Wasserkocher, halb verchromt, halb Kalk.
Ich fülle ihn mit Wasser aus der Flasche, drücke auf den Schalter – natürlich gibt es hier wieder tausend Schalter, Einer macht das Licht an, einer die Klimaanlage, einer die Klimaanlage wieder aus, einer tut gar nichts – und zwei schalten vermutlich den Fahrstuhl oder das Nachbarzimmer ein. Schließlich summt es – zack, der Wasserkocher lebt. Ich grinse. Es sind genau diese Momente, in denen man weiß: man ist in Indien.
Der Kaffee – ein Löffel lösliches Pulver, – Löli-Kaffee. Nicht wirklich gut, aber irgendwie doch genau richtig. Ich lasse mich einfach treiben, rumschlumbumbel so vor mich hin, kein Stress, kein Müssen. Nur Indien, ich, und Löli.
Nach dem ersten Löli-Kaffee gehe ich duschen. Warmwasser braucht hier Geduld und drei Schalter, aber irgendwann läuft’s. Dann runter zum Frühstück: ein tolles Buffet mit Idlis, Chutneys, Toast, Eiern, Wassermelone und etwas, das aussieht wie Pudding, aber herzhaft schmeckt.
Am Nebentisch diskutieren zwei Männer lautstark über Cricket, der Kellner trägt stolz eine silberne Kanne mit Kaffee herum, und irgendwo im Hintergrund läuft ein Lied aus einem alten Bollywoodfilm. Ich lehne mich zurück, genieße das bunte Treiben und scrolle durch mein Handy.
Talakadu. Der Name erscheint wieder, wie ein Wink. Ich lese ein paar Zeilen: versandete Tempel, Fluch, alte Dynastien. Das Ziel steht fest.
Also öffne ich die Uber-App. Zwei Stunden Fahrt, sagt sie. Der Preis ist fair. Ich nicke vor mich hin, als müsste ich jemandem zustimmen, und bestelle.
Das Buffet leert sich, die Sonne klettert höher. Ich gehe zurück aufs Zimmer, packe eine Flasche Wasser, etwas Geld, mein Telefon, und warte an der Strasse auf die Benachrichtigung:„Ihr Fahrer ist unterwegs.“
Vor dem Hotel hupt ein weißer Wagen. Ich steige ein, öffne das Fenster, warme Luft, Staub, Stimmen, das ganz normale Chaos eines indischen Tages.
Das Auto schiebt sich durch das Geklingel, Gehupe, Gewusel, Kühe, Mopeds, Busse, spielende Kinder – alles gleichzeitig. Der Fahrer lächelt entspannt, kaut Betelnuss, hupt im Rhythmus der Straße, so selbstverständlich, dass es fast Musik ist.
Einmal, an einer Ampel, hält ein Mann mit einem Käfig auf dem Kopf neben uns. Darin – lauter bunte Wellensittiche. Ein anderer trägt drei Spiegel auf dem Motorrad, einer davon zeigt mir kurz mein eigenes erstauntes Gesicht. Und als wir weiterfahren, überholt uns tatsächlich ein Elefant auf der Ladefläche eines Tata-Trucks. Ich grinse nur. Indien ist nicht erklärbar – es passiert einfach.
Die Stadt weicht zurück, das Hupen wird leiser, dann Landstraße, Felder, Palmen, die Luft staubiger, trockener. Kinder winken, Frauen in bunten Saris waschen Wäsche im Fluss, alles leuchtet.
Und irgendwann, ganz plötzlich, öffnet sich die Landschaft: Talakadu.

Eine Art Wüste mitten im Grünen. Der Boden ist goldgelb, staubig, weich – man sinkt fast ein. Und dazwischen ragen sie empor, die Tempel. Manche bis zur Hälfte ausgebuddelt, andere fast ganz freigelegt, mit steinernen Göttern, die wieder Licht sehen nach Jahrhunderten im Sand.
Talakadu war einst eine prächtige Stadt, voller Tempel, Paläste, Märkte, alles aus Stein und Gold. Bis ein Fluch kam – still und gnadenlos wie der Sand selbst.
Man erzählt, eine Frau namens Alamelamma, die Gemahlin des Königs von Srirangapatna, sei zu Unrecht beschuldigt worden, den Schmuck der Göttin gestohlen zu haben. Als die Soldaten kamen, floh sie an den Fluss Kaveri, drehte sich um und sprach, bevor sie in die Fluten ging:
„Möge Talakadu zu Sand werden,Möge Malangi zu einem tiefen Strudel,und mögen die Könige von Mysore keine Kinder mehr haben.“
Und so geschah es.
Kurz darauf begann der Sand, die Stadt zu verschlingen. Erst die Felder, dann die Tempel, schließlich die Häuser – alles verschwand Schicht um Schicht, als hätte die Erde selbst beschlossen, die Geschichte zu begraben. Der Fluss änderte seinen Lauf, und dort, wo einst eine lebendige Stadt stand, blieb nur noch eine weite, goldene Fläche zurück.
Bis heute, sagen die Menschen hier, erfüllt sich der Fluch weiter: Die Orte rund um Malangi sind bekannt für ihre gefährlichen Strudel – tief, dunkel, unberechenbar. Und die Herrscherfamilie von Mysore soll tatsächlich über Generationen hinweg keine direkten männlichen Erben gehabt haben.
Ob man es glaubt oder nicht – der Wind, der über Talakadu weht, trägt noch immer etwas Geheimnisvolles in sich. Vielleicht ist es nur die Stimme der Geschichte. Vielleicht aber auch der Fluch einer Frau, die Unrecht erlitt und die Erde selbst zum Zeugen machte. Der Wind brachte Sand, immer mehr, Jahr für Jahr, bis die Stadt unterging.


Heute stehen die Tempel wieder im Licht, nicht alle, aber genug, um zu ahnen, was war. Ich gehe weiter, trete auf eine alte Steinstufe, und sehe hinunter in eine Grube, in der noch ein Dachansatz sichtbar ist – ein weiterer Tempel, halb im Boden, halb in der Geschichte. Überall liegen noch Spuren – halb freigelegte Treppen, Reste von Säulen, geschnitzte Götterköpfe, die aus der Erde schauen wie Zeitzeugen. Und es ist wirklich so, als würde man mitten in der Geschichte stehen – Ein Ort, der schweigt, und doch alles sagt.
Ich bleibe stehen, betrachte die feinen Linien in den Skulpturen. Der Stein scheint zu erzählen. Ein Gefühl tiefer Ehrfurcht – nicht sentimental, sondern klar, ruhig, fast sachlich. Hier war einst Größe. Und vielleicht, so erzählen es Einheimische, sollen auch hier Kshatriya-Krieger gelebt haben – Wächter der Ordnung, Beschützer der Tempel, Männer der Tat und Ehre. Manche glauben sogar, dass diese Region einst unter dem Einfluss der Chera-Könige stand, deren Reich sich über Teile des heutigen Kerala und Tamil Nadu erstreckte.

Deshalb spüren manche Menschen dort:
Wärme, Ruhe, Klarheit, eine Art „Ziehen“ im Herzen, tiefe Vertrautheit, Ergriffenheit.
Beweise gibt es kaum, nur Spuren, Namen, Legenden – aber manchmal reichen die Andeutungen, um Geschichte zu fühlen. Vielleicht zogen Chera-Soldaten einst hier vorbei, vielleicht stand hier ein Schrein, in dem dieselben Götter verehrt wurden, die später in Kerala Stein für Stein wieder auferstanden.
Ich versuche mir die Szene vorzustellen: Krieger mit goldenen Armreifen, Banner im Wind, der Duft von Sandelholz und Ghee, Trommeln in der Ferne. Und dann – Stille. Jahrhunderte, in denen der Sand kam, unaufhaltsam, Schicht um Schicht.

Ein alter Priester tritt neben mich, barfuß, mit einem Bündel Blumen. Er deutet auf eine Senke: „Da unten… noch mehr Tempel. Manche sagen, der Fluch ruht noch immer. “ Ich nicke.
Vielleicht will der Boden hier gar nicht alles preisgeben. Vielleicht soll manches im Sand bleiben – als Erinnerung an eine Zeit, die sich nicht ganz fassen lässt.
Ich gehe weiter, bis die Sonne tiefer steht. Überall glitzern kleine Quarzsplitter im Sand, und im Licht wirkt alles beinahe golden.

Ich weiß nicht, was mich mehr beeindruckt – die Baukunst, der Fluch, oder die Tatsache, dass diese Stille lauter spricht als jedes Geräusch. Nur eines ist klar: Wer hier steht, steht nicht einfach an einem archäologischen Ort. Er steht am Rand von Vergangenheit und Gegenwart – dort, wo selbst der Sand Geschichten erzählt.
Nach Stunden zwischen Sand, Stein und alten Geschichten bin ich schließlich müde und verschwitzt. Der Staub hat sich in jede Ritze meiner Kleidung geschlichen, die Haare kleben am Nacken, und ich fühle mich, als hätte ich selbst in Sand eingebuddelt.
Der Rückweg verläuft ruhiger, fast meditativ – nur das leise Summen des Autos, der gelegentliche Hupeinsatz eines Tuktuks, das vorbeizischt, und das Rascheln der Palmen. Ich werfe einen letzten Blick auf Talakadu, auf die goldene Weite, auf die halbbedeckten Tempel, und kann nicht anders, als leise zu schmunzeln: Wer hätte gedacht, dass eine Stadt, ein Fluch und ein paar Steinstufen meinen Tag so vollständig bestimmen würden?
Zurück in Mysuru gehe ich direkt in mein Zimmer, lasse die Flip-Flops fallen und atme tief durch – ein kurzer Moment, um die Eindrücke des Tages sacken zu lassen. Danach schnappe ich mir mein Handtuch und begebe mich zum Pool, wo das Wasser erfrischend auf mich wartet.
Die Schwimmerkünste der Inder – eher betreutes Ertrinken oder ein Hund im Wasser – lassen mich innerlich lachen. Ich lasse mich treiben, strecke die Arme aus und denke, dass ein bisschen Albernheit genau das richtige Heilmittel für geschundene Muskeln ist. Die Dusche ruft – diesmal kein Schalter-Universum danach bestelle ich etwas zu essen und nippe an dem Bier das ich noch vom Vortag habe. Der Fernseher läuft leise im Hintergrund – Nachrichten, flackernde Werbung, leise Musik –, aber er ist nur Geräuschkulisse, während ich esse, und den Tag noch einmal an mir vorbeiziehen lasse.
Müde, gesättigt – und doch zufrieden.




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